Anfrage des Abgeordneten Hans Urban (Bündnis 90/Die Grünen) + Antwort des Bayerischen Staatsministeriums für Wohnen, Bauen und Verkehr vom 17.11.2020
„Entscheidend für die Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen sowie die Umsetzung von Inklusion im Sinne der UN-BRK ist Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen. Es geht um den Abbau nicht nur von baulichen Barrieren, sondern auch von Barrieren für sinnesbehinderte, geistig oder psychisch behinderte Menschen.“ (Punkt 3.9.) „Staatlich betreute Baumaßnahmen an Straßen, Wegen sowie Zugängen zu Anlagen des öffentlichen Personenverkehrs (z. B. Leitsysteme für blinde und sehbehinderte Menschen, geringe Bordsteinhöhe für mobilitätseingeschränkte Menschen) werden barrierefrei gestaltet.“ (Punkt 3.9.1.1.) Aktionsplan „Schwerpunkte der bayerischen Politik für Menschen mit Behinderung im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention“ (2013)
„Wir wollen schneller bauen – für eine starke Wirtschaft und klimafreundliche Mobilität. An der Schiene wollen wir einfacher elektrifizieren und digitalisieren, Bahnsteige barrierefrei machen oder Schallschutzwände errichten. Wir beschleunigen Genehmigungen, verkürzen Gerichtsverfahren, sorgen für schnelleres Baurecht, entschlacken die Verfahren. Damit nehmen wir alles in den Blick, wo es bislang klemmt.“ Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (August 2020)
Ich frage die Staatsregierung:
1.a) Welche Auswirkungen haben die Ankündigungen, die Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) im Rahmen des Kabinettsbeschlusses für ein Investitionsbeschleunigungsgesetz
gemacht hat, auf Bayern?
Als Mantelgesetz enthält das Investitionsbeschleunigungsgesetz Änderungen der Verwaltungsgerichtsordnung, des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG), des Bundesimmissionsschutzgesetzes, des Gesetzes über die Umweltverträglichkeits-prüfung, des Raumordnungsgesetzes und der Raumordnungsverordnung. Aufgrund des Gesamtzusammenhangs der Schriftlichen Anfrage wird bei der Beantwortung allerdings davon ausgegangen, dass sich die Frage 1.a) nur auf die Änderungen des AEG bezieht.
Zusammenfassend kann in diesem Bereich ein beschleunigter Ausbau der Eisenbahninfrastruktur u.a. durch die folgenden Regelungen erzielt werden:
Für unwesentliche Erneuerungen oder unwesentliche Änderungen an Eisenbahnanlagen bzw. für Unterhaltungsmaßnahmen entfällt das Erfordernis der Planfeststellung. Weiterhin werden die Möglichkeiten der vorzeitigen Besitzeinweisung, Enteignung oder Duldung des Grundstückseigentümers erweitert. Darüber hinaus werden für bestimmte Baumaßnahmen (z.B. Elektrifizierungs- und Digitalisierungsmaßnahmen an Eisenbahnanlagen) die Anforderungen über die Umweltverträglichkeitsprüfung erleichtert bzw. abgeschafft.
1.b) Was bedeutet das im Konkreten für Barrierefreiheit, Infrastrukturausbau und Elektrifizierung auf den Strecken der Bayerischen Regiobahn (BRB) München-Bayrischzell/München-Lenggries/München-Tegernsee?
Die hier angesprochenen Bahnstrecken gehören der DB Netz AG und der Tegernsee Betriebsgesellschaft mbH (TBG). Die Bayerische Regiobahn (BRB) fährt auf diesen Strecken das Schienenpersonennahverkehrsangebot im Auftrag des Freistaats. Für die Finanzierung der Infrastruktur ist auf den DB-Strecken der Bund verantwortlich, auf der TBG-Strecke das Eisenbahninfrastrukturunternehmen selbst.
Für die Elektrifizierung dieser Strecken laufen derzeit die Vorplanungen im Auftrag des Freistaats. Sollte das Investitionsbeschleunigungsgesetz in der Fassung des Kabinettsbeschlusses der Bundesregierung verabschiedet werden und es für das Elektrifizierungsprojekt weiterführende Planungen geben, kommen die Beschleunigungsmaßnahmen bei der Umweltverträglichkeitsprüfung und der Planfeststellung nicht zum Tragen, da der Streckenumfang rund 80 Kilometer beträgt und damit über der im Gesetzesentwurf bestimmten Grenze von 15 Kilometer liegt.
Hinsichtlich der Folgen für angestrebte weitere Infrastrukturausbauten auf diesen Strecken können keine Aussagen getroffen werden, da die Maßnahmen derzeit nicht feststehen.
Bezogen auf die Barrierefreiheit sind der Staatsregierung derzeit keine Aktivitäten der Eisenbahninfrastrukturunternehmen (EIU) auf diesen Strecken bekannt. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 7 verwiesen.
2.a) Wie geht die Staatsregierung mit den anhaltenden Beschwerden von Menschen mit Behinderung um, die nach dem Austausch einzelner Züge der BRB-Flotte von „Integral“- zu „Lint54“-Zügen schlechtere Barrierefreiheit als zuvor beklagen?
Die Staatsregierung nimmt alle Beschwerden sehr ernst. Daher besteht zu dieser Thematik ein enger Austausch zwischen der Bayerischen Eisenbahngesellschaft (BEG) und der BRB. Festzustellen ist aber auch, dass die eingesetzten Fahrzeuge vom Typ „Lint 54“ vom Eisenbahnbundesamt zugelassen sind und somit vollumfänglich alle einzuhaltenden gesetzlichen Normen hinsichtlich der Barrierefreiheit erfüllen. Zudem erfüllen die Fahrzeuge die Ausschreibungsbedingungen des Vergabeverfahrens „Bayerische Oberlandbahn 2014+“ der Bayerischen Eisenbahngesellschaft (BEG) aus dem Jahr 2012.
Richtig ist, dass der Spalt zwischen Bahnsteig und Fahrzeugeinstieg bei den „Lint 54“-Zügen breiter ist als bei den „Integral“-Zügen. Um eventuellen Erschwernissen bei mobilitätseingeschränkten Reisenden zu begegnen, wird vom Servicepersonal auf Wunsch eine mobile Faltrampe ausgelegt. Diese befindet sich gleich neben dem deutlich gekennzeichneten Einstieg für Fahrgäste mit Mobilitätseinschrän-kung und ist innerhalb kürzester Zeit einsatzbereit.
2.b) Wie geht die Staatsregierung mit den anhaltenden Beschwerden von Anwohner*innen an BRB-Strecken um, die seit dem Einsatz der „Lint54“-Züge über Lärmbelästigung (Quietschen etc.) klagen?
2.c) Inwieweit werden konkrete Maßnahmen hinsichtlich beider Beschwerdegründe unternommen (Nennung Maßnahme und Zeitpunkt)?
Die Fragen 2.b) und 2.c) werden im gemeinsamen Sachzusammenhang beantwortet.
Im Rahmen eines Runden Tisches mit Vertreterinnen und Vertretern der Landkreise und Gemeinden im Oberland hat die BRB verschiedene Maßnahmen vorgestellt:
- Anbringung größerer Symbole zur Kennzeichnung der Rollstuhlbereiche außen am Zug (bereits umgesetzt).
- Beschaffung von Überfahrblechen (so genannte Riffelbleche) für alle Fahrzeuge, welche auch ohne Hilfe des Zugpersonals angelegt werden können.
- Minimierung des Kurvenquietschens durch technische Maßnahmen seitens der BRB und der Infrastrukturbetreiber (Spurkranzschmierung etc.).
- Reduzierung der Lautstärken beim Türenschließen und beim Signalhorn auf das gesetzlich vorgeschriebene Maß.
- Maßnahmen zur Geräuschminimierung in der Abstellung und beim Aufrüsten von Fahrzeugen.
Sofern noch nicht geschehen, soll die Umsetzung jeweils zum nächstmöglichen Zeitpunkt erfolgen. Die Mandatsträgerinnen und -träger aus der Region sollen im Rahmen weiterer Abstimmungstermine über den Umsetzungsstand informiert werden.
3.a) Wie lautete der exakte Text der Ausschreibung der Bayerischen Eisenbahngesellschaft (BEG) für den Betrieb der Bahnstrecken „Bayerische Oberlandbahn 2014+“ hinsichtlich Fahrzeugausstattung, Einstiegshöhe und diskriminierungsfreiem Zugang?
Das betreffende Kapitel der Leistungsbeschreibung dieser Ausschreibung liegt als Anlage bei.
3.b) Wie begründet sich, dass bei der Ausschreibung das Wort „stufenlos“ als Kriterium für Barrierefreiheit verwendet wurde und nicht der technisch definierte Begriff „niveaugleich“ (ein Begriff der TSI-PRM)?
3.c) Wie verantwortet die Staatsregierung die Konsequenzen, die dies nach sich gezogen hat hinsichtlich der Barrierefreiheit?
Die Fragen 3.b) und 3.c) werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet.
Die Staatsregierung bekennt sich zum Ziel der Barrierefreiheit des Gesamtsystems Schienenpersonennahverkehr im Zusammenspiel von Infrastruktur und Fahrzeugen. Hierfür engagiert sich der Freistaat in erheblichem Maße auch finanziell. Allerdings lässt sich dieses Ziel aufgrund des hohen Nachholbedarfs im Bereich der großteils vom Bund verantworteten Infrastruktur und der technischen Restriktionen und langen Lebenszyklen von Schienenfahrzeugen nur sukzessive und langfristig erreichen.
Die TSI PRM (Technische Spezifikationen für die Interoperabilität von Menschen mit Behinderungen und Menschen mit eingeschränkter Mobilität) in der heute gültigen Fassung ist seit 01.01.2015 in Kraft. In der davor gültigen TSI PRM (2008) kommt der Begriff „niveaugleich“ nicht vor. Die Definition des Begriffs „niveaugleich“ erfolgte erst mit der TSI PRM (2015). Die Ausschreibung des Netzes „Bayerische Oberlandbahn 2014+“ wurde bereits im Jahr 2012 durchgeführt.
4.a) Weshalb wurde beim Festlegen der Kriterien für den Betrieb der Strecken nicht explizit darauf geachtet, dass vom Betreiber ein für die Strecken der BRB bestmöglich passendes Zug-Modell eingesetzt werden muss (hinsichtlich Abstand Bahnsteigkante-Zug etc.)?
4.b) Inwieweit unterstützt die Staatsregierung das Vorgehen des Betreibers BRB beim Austausch der Zugflotte von „Integral“ zu „Lint54“?
4.c) Inwieweit unterstützt die Staatsregierung, dass dem Modell „Lint54“ der Vorzug gegenüber dem Modell „Lint45H“ gegeben wurde, obwohl der beim Modell „Lint54“ die Lücke nicht niveaugleich geschlossen wird, beim „Lint54H“ auf 25 von 22 Bahnsteigen der Strecke jedoch schon?
Die Fragen 4.a) bis 4.c) werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet.
Die Leistungen im Verkehrsdurchführungsvertrag „Bayerisches Oberland 2014+“ wurden entsprechend der Ausschreibung mit Triebwagen der Baureihen Integral (17 Fahrzeuge) und Talent (9 Fahrzeuge) erbracht. Der Vertrag war mit einer Laufzeit bis 12/2024 angelegt, mit einer Verlängerungsoption um 2 Jahre. Im Jahr 2018 schlug die BRB (damals noch als BOB) der BEG einen Fahrzeugtausch im laufenden Verkehrsdurchführungsvertrag vor. Als Gründe wurden die hohe Störanfälligkeit und immer aufwändigere Instandhaltung der Altfahrzeuge genannt. Vorgeschlagen wurde von der BRB die Beschaffung von 25 Neufahrzeugen vom Typ Lint 54 des Herstellers Alstom.
Die BEG bestand darauf, dass die neuen Fahrzeuge in puncto Ausstattung und Leistungsfähigkeit nicht hinter die alten Fahrzeuge zurückfallen dürfen. Dies umfasste insbesondere folgende Aspekte:
- Sicherstellung des bewährten Fahrplanangebotes.
- Beibehaltung der bisherigen Sitzplatzkapazitäten.
- Einhaltung der Vorschriften zur Barrierefreiheit (Erfüllung der TSI-PRM)
Der Aufsichtsrat der BEG hat dem Fahrzeugtausch am 13.09.2018 zugestimmt.
Am 24.06.2019 billigte der BEG-Aufsichtsrat die Nachbestellung von weiteren sechs Fahrzeugen vom Typ Lint 54. Der Fahrzeugtausch wurde durch die BRB zwischen Mitte Juni und Ende Juli 2020 umgesetzt. Die sechs zusätzlichen Fahrzeuge werden ab Dezember 2020 im Einsatz sein.
Aus Sicht der Staatsregierung überwiegen die Vorteile des Fahrzeugtausches die Nachteile deutlich. Zudem ermöglicht die Zusatzbeschaffung eine wesentliche Angebotsverbesserung.
Die Staatsregierung begrüßt den Austausch der Zugflotte, da es sich bei dem Fahrzeugtyp Lint 54 um ein hochmodernes und dem neuesten Stand der Technik entsprechendes Schienenfahrzeug handelt. Hierbei handelt es sich um bewährte und zuverlässige Fahrzeuge, die in allen Regionen Deutschlands seit vielen Jahren im Einsatz sind.
Darüber hinaus ist auf dem Fahrzeugmarkt derzeit keine adäquate Alternative zum Modell „Lint 54“ verfügbar. Der Lint 54 H (Hochflur) mit einer Fußbodenhöhe von ca. 80 cm ist nicht zugelassen verfügbar (keine Zulassung gemäß der aktuellen TSI-Norm).
5.a) Welche Schlüsse aus dem aktuellen Debakel nimmt die Staatsregierung für die nächste Ausschreibung und Vergabe der BRB-Strecken über die BEG im Rahmen von „Oberland 2027+“ (Vergabebeginn 2022) mit?
Die BRB hat wie dargestellt bereits Maßnahmen zur Verbesserung der Barrierefreiheit ergriffen und prüft weitere Ansätze; insoweit wird auf die Antwort auf Frage 2.c) verwiesen. Darüber hinaus bieten die Fahrzeuge im Bereich der Barrierefreiheit weitere Vorteile, wie z.B. den zusätzlichen zweiten Rollstuhlfahrerplatz mit zwei in unmittelbarer Nähe angeordneten, separaten Begleitersitzen, die eindeutige räumliche Trennung des Rollstuhlfahrerbereichs vom Mehrzweckbereich für Fahrradfahrer, zusätzliche Notrufknöpfe, die große barrierefreie Toilette, sowie zahlreiche neue taktile und akustische Elemente für sehbehinderte Fahrgäste.
Der Austausch der Fahrzeugflotte hat zudem zu einem deutlich stabileren und pünktlicheren Betrieb im Netz der Oberlandbahn geführt und ermöglicht dringend benötigte Leistungsausweitungen.
Die Staatsregierung beabsichtigt, alle Verbesserungen der Barrierefreiheit auch bei der Folgeausschreibung beizubehalten und prüft laufend weitere Maßnahmen.
5.b) Welche Kriterien werden bei der Ausschreibung für den Betrieb von „Oberland 2027+“ angelegt, insbesondere hinsichtlich der Barrierefreiheit?
Bei der Ausschreibung und Vergabe im Rahmen von „Oberland 2027*“ sind alle maßgeblichen Vorschriften der EU-Verordnung TSI-PRM vollumfänglich zu erfüllen.
5.c) Inwieweit hält die Staatsregierung bis zur Betriebsaufnahme in 12/2026 den Betrieb der BRBStrecken mit der derzeitigen Flotte aus „Integral“- und „Lint54“-Zügen für vertretbar?
Die bislang eingesetzten Fahrzeuge vom Typ „Integral“ und „Talent“ wurden bis zum 25.07.2020 vollumfänglich durch Lint 54 ersetzt. Sie stehen daher nicht mehr für den Einsatz im Oberlandnetz zur Verfügung.
6.a) Welche Summe an Regionalisierungsmitteln, die Bayern vom Bund erhält, liegt derzeit im Haushalt?
Für das Jahr 2020 steht dem Freistaat die Summe von 1,365 Mrd. EUR an Regionalisierungsmitteln zur Verfügung.
6.b) Wie viel Prozent der Regionalisierungsmittel fließen auf die Strecken der BRB zwischen München-Bayrischzell/Lenggries/Tegernsee?
Aus wettbewerbsrechtlichen Gründen und zur Wahrung der Geschäftsgeheimnisse der Verkehrsunternehmen kann die BEG keine Angaben zu an einzelne EVU ausbezahlten Bestellerentgelten machen.
6.c) Wofür werden die Mittel ausgegeben (bitte aufgliedern nach Summen und einzelnen Maßnahmen)?
Bei den von der BEG an das EVU ausbezahlten Mittel handelt es sich um das vertragliche Bestellerentgelt.
7. Welche konkreten Maßnahmen plant die Staatsregierung, gemäß der UN-BRK Artikel 20 die Mobilität im Oberland barrierefrei zu gestalten, vor allem auch mit Blick auf das Versprechen „Bayern Barrierefrei 2020“ von Ministerpräsident Seehofer und Söder?
Die Stationen im Oberlandbahn-Netz sind bis auf wenige Ausnahmen bereits weitgehend barrierefrei ausgebaut. Für eine Komplettierung der Barrierefreiheit fehlen z.B. noch der Bahnhof Tegernsee, sowie die nur selten benötigten Bahnsteige an Gleis 2 in Lenggries und an Gleis 1 in Bayrischzell.
Im Übrigen wird darauf hingewiesen, dass sich die Aussagen des früheren Bayerischen Ministerpräsidenten Seehofer zur Barrierefreiheit im öffentlichen Raum bis zum Jahr 2023 auf jene Bereiche bezogen haben, bei denen die Zuständigkeit beim Freistaat liegt. Bei den Bahnstationen liegt sie für die Stationen der DB bei der DB bzw. dem Bund und auf der Tegernseebahn bei dieser selbst.